Der Kirschgarten

MENSCHEN SIND KOMISCH

Regisseur Kay Neumann im Gespräch
Schindler: Ob Schauspieler oder Regisseure, alle Theaterleute lieben Tsche­chow. Woran liegt das?
Neumann: Das ist jetzt keine Wertung, aber als erstes fällt mir der sehr besondere Humor von Tschechow ein. Tschechow betrachtet seine Figu­ren aus einer ironischen Distanz. Das merkt man sehr stark, wenn man an diesen Figuren in der Probe arbeiten darf. Tschechow ist in gewisser Weise unvergleichlich. Er kann in der Figurenbeschreibung seine Men­schen sehr liebevoll und sehr umarmend zeichnen und ihnen gleichzeitig mit der Handkante ins Genick hauen. Und dieser Vorgang ist lustig. Er schreibt einen Kosmos von Figuren, die sehr, sehr präzise in ihren Eigen­schaften, in ihren Leidenschaften, in ihrem Menschsein gezeichnet, oft überzeichnet sind, aber so, dass man sagt, so ist die Realität, die Wahrheit. Menschen benehmen sich manchmal halt auch dämlich, besonders wenn sie verliebt sind, oder wenn sie etwas ganz stark wollen. Der menschli­che Kosmos besteht eben auch aus vielen Absurditäten, und wenn wir uns von außen betrachten könnten, würden wir uns vermutlich gut ein-reihen. Diese kleine Übertreibung, oder sagen wir Zuspitzung macht die Figuren lebendig, und eben auch komisch. Das findet man bei Tschechow ständig.Schindler: Das fängt schon mit der Sprache an.Neumann: Genau, was Menschen so dahinsagen, das hat er auf eine besondere Weise abgebildet, aber ohne es dokumentarisch abzulichten, er hat es eben wirklich künstlerisch verdichtet. Mein Lieblingsdialog im „Kirschgarten“ ist: „Mein Hund frisst auch Nüsse.“ - „Ach.“ Das hat Lori­otsche Qualität. Und es kommt ein zweites hinzu. Tschechow beschreibt ambivalente Figuren. Ein Beispiel: Anja beschreibt ihrer Schwester in welch trister Situation sie ihre Mutter in Paris vorgefunden hat. Ein Bild des Jammers, denn der Mutter ist das Geld ausgegangen. Dann bemerkt Warja Anjas Brosche. Antwort von Anja: Ja, die hat Mutter mir geschenkt. Das passt nicht zusammen, aber so sind die Menschen - und nicht nur bei Tschechow. Das sind die situativen Fallhöhen, die Tschechow immer wieder schafft. Die sind nicht immer ganz leicht zu entdecken.Schindler: Woher kommt diese Fähigkeit bei Tschechow?Neumann: Der Mann war Arzt, und zwar dort, wo es richtig weh tut. Der besuchte die Strafkolonie auf der Insel Sachalin, den zaristischen Gulag, und hat dort das Elend der Welt gesehen. Und der weiß auch, dass, wenn Mann und Frau sich begegnen, es nicht immer um Halma spielen geht. Tschechow ist für mich ein großer Erotiker, was nicht nur Sexualität meint. Aber es ist immer auch eine erotische Spannung. Es wird über Lie­be geredet oder es wird Liebe auf die unterschiedlichen Weisen praktiziert oder eben nicht praktiziert...Schindler: ... meistens nicht.Neumann: Das Elend anderer Leute ist eben manchmal auch unterhalt­sam. Aber irgendwann ist Schluss mit Lachen. In dieser großen Spann­weite arbeitet Tschechow. Er lotet die menschliche Existenz zwischen Farce und Tragödie aus wie kein Zweiter. Und die Tschechowschen Stücke sind sehr genau gebaut, das ist sehr überlegt, hat eine klare Struktur, ist architektonisch durchgeführt. Da saß ein Autor im Zenit seines Könnens und hat ein Stück genau durchgeplant. Und trotzdem ist es nie als Kon­strukt zu erkennen, es ist nie kalt, es hat nichts von Laboranordnung, es ist immer sinnlich. Das ist das große Phänomen bei Tschechow. Darum macht er den Theaterleuten so viel Spaß. Je weiter du dich reinbuddelst, desto mehr neue Schichten erstaunlich fruchtbaren Bodens entdeckst du. Schindler: Tschechow bezeichnet viele seiner Stücke als Komödie. Meistens ist das in der Aufführung nicht zu sehen. Da sieht man oft melancholische Alltagsgeschichten, in denen die Figuren scheitern.Neumann: Das hat mit dem gängigen Komödienbegriff zu tun. Komödie ist etwas, das sich schnell vollzieht. Wir sprechen von Gagfeuerwerken, Pointengewittern, also sehr dynamische Begriffe, die sich mit dem Komö­dienbegriff verknüpfen. Für mich ist Komödie das Aufzeigen der Fallhö­hen, in denen sich Menschen grundsätzlich bewegen. Um ein Beispiel zu geben: Am Anfang des Stücks tritt Jepichodov auf, das ist eine Clowns­nummer. Er stolpert, die Blumen fallen ihm runter, er ist ein Tollpatsch. Tschechow winkt mit dem Zaunpfahl: Hier darf auch gelacht werden. Damit ist die Stimmgabel auf den Kammerton L wie Lachen eingestellt. Dann verfolgst du die Figur durch das Stück und du merkst: Das ist ja entsetzlich. Der hat ja eine entsetzliche Geschichte in dieser unglücklichen Liebe. Und am Ende steht eine Figur, die dich auf eine ganz andere Weise berührt als am Anfang. Dass er das möglich macht, das finde ich die große Leistung von Tschechow.Schindler: Die Regieanweisung, die Tschechow im „Kirschgarten“ am häu­figsten schreibt, lautet: „unter Tränen“.Neumann: Das ist nicht wörtlich zu verstehen, sondern atmosphärisch. Er meint damit die Fähigkeit, sich ganz dem eigenen Gefühl hinzugeben, sich in eine Emotion hineinzusteigern. Was oft auch etwas gekünsteltes, absichtsvolles hat. Schindler: Tschechow situiert sein Stück etwa 1905, also zur Entstehungs­zeit. Monika Frenz, die Ausstatterin, und du rücken das Stück an unsere Zeit heran.Neumann: Ja, man spricht dann oft als Theatermensch von einer Zeit­losigkeit. Ich nenne das: modern, ohne Handy, also ohne die modernen Kommunikationsmittel. Nimm den 3. Akt: Man sitzt auf dem Gut und will wissen, was auf der Auktion in Charkow passiert. Heute müsste einer versuchen, dort anzurufen. Er kriegt aber keine Verbindung, weil der Akku leer ist, oder er erreicht nur die Mailbox. Das bringt uns die Situati­on der bis zum Zerreißen angespannten Nerven, weil dort - weit weg, in Abwesenheit der Betroffenen - über ihr Schicksal verhandelt wird, auch nicht wirklich näher. Deshalb haben wir die Bühne mehr als einen Raum konzipiert, der uns Assoziationen liefert in diese gesellschaftliche Gruppe, die sehr heterogen ist. Da ist alles versammelt: die alte Zeit, die neue Zeit, arm und reich, intelligent und doof. Aus dieser Gemengelage entwickeln sich die Szenen und haben etwas von einem Miniaturenmosaik, in dem ganz kleinteilig die Figuren gezeigt werden.Schindler: Man kann Lopachin unterschiedlich profilieren, als eiskalten Ka­pitalisten oder als jemanden, der versucht, das Gut für die Familie zu retten.Neumann: Ja, ich glaube ihm, dass er wirklich versucht, das Gut zu retten. Und am Schluss, wenn er das Gut gekauft hat, sagt er zur Ranjewskaja: „Warum haben Sie nicht auf mich gehört?“ Und dann fügt er hinzu: „Wa­rum ist es nicht endlich vorbei, dieses elende Leben?“ Er hinterfragt nicht nur den Akt des Übertragens von Eigentum, sondern er fragt: Warum ist überhaupt dieses Unglück in der Welt? Warum kann ich mich jetzt nicht freuen? Das ist zumindest meine Interpretation. So einen Satz könnte man natürlich streichen, dann wäre die Figur schön eindimensional. Aber das ist nicht Tschechow.Schindler: Jascha ist - zumindest in unserer Aufführung - der eiskalte Hund.Neumann: Ja, das habe ich auch mit voller Absicht so inszeniert. Der nimmt mit, was er kriegen kann, kalt und bindungslos, aber immer berechnend, was für ihn von Vorteil ist. Er ist sicher nicht der große Stratege, aber er verfügt über eine Art von ad-hoc-Intelligenz, gepaart mit Chuzpe. Erst moniert er die mangelnde Qualität des gereichten Schaum­weins, dann leert er in kurzer Zeit die Gläser. Und das ist komisch.Schindler: Aber es ist eine Komik, die vom Zuschauer entdeckt werden muss.Neumann: Ja, es ist intelligente Komik. Das ist eine Aufgabe für den Re­gisseur: Wie viel Reiz braucht es, um diese Fallhöhe markant und evident darzustellen? Einfacher gesagt: Wie viel Zucker musst du dem Affen ge­ben? Das ist eine schwierige, eine knifflige Geschichte. Aber wir bemühen uns redlich.
KIRSCHGARTEN-Regisseur Kay Neumann

KIRSCHGARTEN-Regisseur Kay Neumann


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