Die Stühle

EIN BILD DES LEBENS

Regisseurin Sapir Heller im Gespräch mit Dramaturg Thomas Schindler Schindler: Dass dieses Stück auf dem Spielplan steht, war dein Vorschlag. Warum? Heller: Was mich interessiert, ist erstens die Form. Es ist ein Stück des sogenannten Absurden Theaters. Es benützt eine Sprache, die auf den ersten Blick wenig Sinn macht. Dann aber - über viele Wiederholungen, Zerstückelungen -, dann wieder einen Sinn ergibt. Es spielt mit einer absurden Situation - unsichtbare Gäste, also unsichtbare Schauspieler. Das ist neu für mich, das wollte ich gerne ausprobieren. Und zweitens: Dieses alte Paar ist in einer Warte-, einer Zwischenraum-Situation: Sie warten auf die Gäste, auf den Redner, auf die große Botschaft... Das interessiert mich, weil ich denke, dass auch wir in unserer Gesellschaft oft warten, dass irgendjemand etwas macht. Man selbst kommt wenig zum Handeln. Schindler: Das Absurde Theater ist nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, als Reaktion auf diese Katastrophe der menschlichen Zivilisation, würdest du unsere heutige Situation als absurd bezeichnen? Heller: Ich komme aus Israel, einem Land, dessen Alltag in vielerlei Hinsicht durch kriegsähnliche Handlungen geprägt ist. Der Krieg wird zum Alltag, wird normal, man arrangiert sich. Und wenn wir von einer Kriegssituation absehen, jeder andere unserer Gesellschaft stellt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens. Wir arbeiten und arbeiten, warum ei¬gentlich, wofür? Wir leben angeblich in einer Leistungsgesellschaft, aber es geht nicht um die Leistung für sich, es geht ständig darum, besser zu sein als andere. Das ist ein Rattenrennen. Ist die Mutter, die zwei Kinder zum Abitur bringt, besser als die Mutter mit einem Kind? Das ist absurd. Jeder muss seinen Sinn finden. Ich vergleiche das gern mit Sisyphos, der seinen Stein den Hügel hinauf rollt. Irgendwann kapiert er, dass der Stein immer wieder runter rollen wird. Dann wird ihm das Rollen selbst zum Sinn. Wir leben um zu leben. Wir leben in einer absurden Welt. Und dann kommt Ionesco und sagt: Okay, dann zeige ich euch, was scheinbar absurd ist - Leute, die unsichtbare Gäste empfangen -, vielleicht ist das aber realistischer als unsere Realität. Ein Gegen-Vorschlag zu unserer Realität. Diese Umkehrung der Situation, diesen Wechsel der Perspektive, habe ich in unsere Aufführung hineingenommen: Das Publikum sitzt auf der Bühne und die Schauspieler agieren im Zuschauerraum. Schindler: Wir wissen alle nicht mehr, was die Wahrheit ist. Wir bewegen uns in einer inszenierten Realität, inszeniert zum Vorteil des Inszenators. Das ist das Konzept der alternativen Fakten. Heller: Man verliert das Vertrauen. Nicht nur in der Politik, auch im Zwischenmenschlichen. Diese totale Unsicherheit finde ich in diesem Stück. Am Ende sind die Menschen weg. Und was bleibt? Die Stühle, das Materielle. Und das Menschliche, das man sonst kennt vom Leben oder vom Theater, das ist nicht da. Schindler: Wir sehen ein Paar gegen Ende eines langen gemeinsamen Lebens. Heller: Aber in dieser Gemeinsamkeit haben sie viele Widersprüche. Die Frau erzählt vom gemeinsamen Sohn, und dann sagt der Mann: Wir hatten keine Kinder. Jeder hat seine eigene Wahrheit. Da ist Ionesco, ein Schöpfer des Absurden Theaters, sehr realistisch. Schindler: Bei Ionesco ist die Situation: Ein Ehepaar schafft für imaginäre Gäste Stühle herbei. Bei uns: Wenn etwas im Zuschauerraum vorhanden ist, dann sind es Stühle. Heller: Die Aktion ist trotzdem vorhanden, denn die Stühle werden bei uns hergerichtet. Gerade weil die Stühle schon vorhanden sind, habe ich das Gefühl, dass die Beiden dieses Spiel schon ihr ganzes Leben lang spie¬len. Es ist ein Spiel, eine Verabredung. Es ist ihr Leben, für das Ionesco ein Bild geschaffen hat.

> Stückinhalt> Mitwirkende> Fotos> Interview