Hänsel und Gretel

INTERVIEW: Eine Oper für alle

Musikdramaturg Lothar Krause im Gespräch mit dem Regisseur Hinrich Horstkotte

Krause: „Hänsel und Gretel“ ist seit Generationen oft der erste Kontakt für Kinder mit dem klassischen Musiktheater. Gehört „Hänsel und Gretel“ auch zu einem deiner ersten Opernerlebnisse?

Horstkotte: Ja, es ist die erste Oper, die ich jemals gesehen habe – mit vier Jahren in der Deutschen Oper Berlin. Meine Mutter hat mir erzählt, dass ich, wie alle anderen Kinder auch, erst geglaubt habe, dass die Mutter die Hexe ist, dann dass das Sandmännchen die Hexe ist, und dann dass das Taumännchen die Hexe ist. Und als die „echte“ Hexe kam, hatte ich mich emotional schon so verausgabt, dass ich vor der gar keine Angst mehr hatte. Und dann hat meine Mutter erzählt, als sie wieder nach Hause gehen wollte, hätte ich mich am Sitz festgeklammert und gesagt: „Ich will nicht gehen, ich will bleiben!“. Insofern hat das schon einen weittragenden Einfluss auf meine Zukunft genommen. „Hänsel und Gretel“ war für mich, wie für viele Kinder, die Einstiegsoper. 

Krause: Ist Humperdincks Werk eine Oper für Kinder oder doch eher nur eine Oper, die auch Kindern gefällt?

Horstkotte: Es ist von der Genese her ursprünglich für Kinder oder für die Familie gedacht. Ich finde, wie jedes gute Stück: eine Oper für alle. In diesem Fall bedingt durch das Thema, natürlich eine Oper, die für Kinder besonders gut konsumierbar ist. Wobei es auch andere Opern gibt, die einen besonders hohen Schauwert haben, wie beispielsweise „Die Zauberflöte", die man gemeinhin auch als gute Einstiegsopern für Kinder bezeichnet, weil sie eben Identifikationspotential bieten – im Falle der „Zauberflöte“ ist es der Papageno, in „Hänsel und Gretel“ sind es die beiden Hauptfiguren und auch der Umstand, dass die Kinder mit der Geschichte vertraut sind. Seltsamerweise haben sich die anderen Opern, die auf grimmschen Märchen basieren, nicht in dem Maße durchgesetzt. „La Cenerentola“ (Rossini) oder „Cendrillon“ (Massenet) sind dann doch sehr spezifisch auf ein erwachsenes Publikum hin geschrieben worden, während bei „Hänsel und Gretel“ das Kindliche mitbedient wird, beispielsweise durch die enthaltenen Volkslieder oder jener Lieder, die dann später Volkslieder wurden.

Krause: Wird der Zuschauer ein echtes Märchen sehen, wenn sich der Vorhang hebt?  

Horstkotte: Natürlich! Das finde ich ganz wichtig! Gerade weil „Hänsel und Gretel“ eine Einstiegsoper sein kann und soll. Und viele Leute, ich zum Beispiel, haben eine bestimmte atmosphärische Erwartungshaltung an das Stück, die unbedingt bedient werden soll.

Krause: Hinter dem Märchenzauber steht jedoch sehr viel mehr als eine zauberhafte Geschichte. Hier geht es auch um archetypische Figuren und deren Ängste.

Horstkotte: Ein Märchen ist ein Gleichnis – eine in eine Geschichte gepackte Botschaft oder Frage oder beides. C. G Jung [Begründer der analytischen Psychologie] würde beispielsweise die Hexe „die große fressende Urmutter“ nennen. Die Mutter, die uns durch den Umstand, dass wir von ihr geboren worden sind und die uns in den ersten Jahren ernährt hat, an sich bindet. Und dann werden die Kinder vom Vater hinausgeschickt in die Welt, um allein ihren Weg zu suchen durch den Wald oder eben das Leben und dann treffen wir auf eine Übermutter, die schon alles vorbereitet hat. Sie hat ein Haus, das nur aus Essen besteht. Und die uns so sehr liebt und uns in der Kindheit halten will, dass sie uns zum Fressen gern hat und damit quasi den Geburtsvorgang rückgängig macht.

„Hänsel und Gretel“ ist eine Geschichte über das Erwachsenwerden oder im weitesten Sinne das Selbstständigwerden. Und natürlich geht es auch um Ängste, die sich daraus ergeben.

Krause: Richard Wagner war ein geistiger Vater Humperdincks und hat sein Schaffen stark beeinflusst. In „Hänsel und Gretel“ klingt das Wagner-Thema immer wieder an. Die Welt Richard Wagners hast du in deinem Konzept verarbeitet.

Horstkotte: Der Auslöser war die Biografie von Humperdinck und überhaupt das Thema Vater-Kind im weitesten Sinn, das über der ganzen Biografie Humperdincks und auch über der Entstehung dieser Oper schwebt, eben dass Richard Wagner der geistige und künstlerische Ziehvater von Humperdinck war und dass Wagner wiederum Humperdinck als musikalischen Erzieher seines Sohnes Siegfried eingesetzt hat, der als Komponist nicht seinem Vater, sondern Humperdinck gefolgt ist. Siegfried Wagner hat sich viel mehr der märchenhaften Richtung zugehörig gefühlt.

Familie scheint im Haus der Humperdincks eine ganz wichtige Rolle gespielt zu haben – es war einfach eine „glückliche Familie“.

Was das Wagnerische betrifft: In der Musik klingt es eh an und es gibt von Humperdinck die ironische Bezeichnung „Kinderstuben-Weihfestspiel“ der Urfassung von „Hänsel und Gretel“. Tatsächlich gibt es auch einige musikalische Zitate in der Oper, wie das „Waldweben“ aus Wagners „Siegfried“ im 2. Bild vor dem Kuckuck.

Dann war mir sehr wichtig, dass die Hexe von einer Frau gesungen wird, wie es von Humperdinck vorgesehen war [mittlerweile wird die Hexe oft auch von Tenören gesungen] – es ist für eine bedeutende Wagner-Sängerin komponiert worden, die Humperdinck in Bayreuth oft gehört hatte.

Auch das klingt in der Musik an: Der Schritt von „Hexenritt“ zum „Walkürenritt“ ist musikalisch und inhaltlich nicht allzu groß. Deswegen habe ich mir erlaubt mit dem Thema Wagner in ironischer Weise in diesem Stück umzugehen. Das sieht man in der Art und Weise wie das Knusperhaus aussieht, wie die Hexe aussieht und was die Kinderlein am Schluss der Oper tun.

Regisseur Hinrich Horstkotte

Regisseur Hinrich Horstkotte


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