Alcina

DAS PARADIES ALS DAS VERLORENE IDEAL

Regisseur Hinrich Horstkotte im Gespräch mit Musikdramaturg Lothar KrauseKrause: Sie sind ein erklärter Liebhaber der Barockoper und haben auch bereits einige mit namhaften Interpreten erarbeitet. Was ist für Sie das Besondere an Opern dieser Epoche? Horstkotte: Mir persönlich ist das Musiktheater des 18. Jahrhunderts viel näher als das des 19. Jahrhunderts. Ich empfinde es als moderner, vielleicht wegen der offeneren musikalischen Form und größerer Klarheit. Die Opern sind in einer Sprache geschrieben, die unserer sehr nahe ist - im Übrigen auch im Schauspiel, wenn ich an Marivaux oder - nur wenig später - Lessing denke. Mir scheint, der Rhythmus, der den Werken innewohnt, ist aktuell und zeitlos. Krause: Die Opern der Barockzeit erleben seit einigen Jahrzehnten eine wahre Renaissance, nachdem sie teilweise über 250 Jahre komplett in Vergessenheit geraten waren. In Hof wird mit „Alcina“ tatsächlich erstmals eine Oper Georg Friedrich Händels gespielt. Woher kommt dieses neuerliche Interesse? Horstkotte: Es hat sicherlich damit etwas zu tun, dass die Musik des Barock in bestimmten Punkten der Musik, die heute populärer ist als die sogenannte „klassische Musik“, ein bisschen ähnlicher ist. Das Mittel der Improvisation spielt dabei eine ganz große Rolle - das gibt es beispielsweise auch im Jazz, im R&B bei Beyoncé, Mariah Carey oder Stevie Wonder. Bei der Oper ist es so: je älter, desto weniger ist fixiert. Es gibt eine Melodielinie, eine klare Basslinie, auch grosso modo eine Instrumentation, aber jedes einzelne Musikstück soll von den Interpreten individuell gestaltet werden. Im Prinzip betätigt sich heutzutage ein Dirigent, den es damals noch gar nicht gab, auch als Regisseur. Umgekehrt gibt das dem Regisseur die Möglichkeit, sich ein Stück weit als Dirigent einzubringen - in dem Sinne, dass jedes Musikstück einen bestimmten Interpretationsspielraum hat. Entsprechend gehen wir mit der Musik um. Die Opern und vor allem der Umgang mit Musik hat sich im Laufe der Zeit sehr stark verändert, in der Zeit des Barock hat der Interpret dominiert, somit ist die Komposition eine Art „Angebot“ an den Interpreten. Krause: Heute ist das für uns vielleicht nur schwer vorstellbar, jedoch waren dies ja auch keine Kompositionen für die Ewigkeit. Horstkottte: Nein. Auch das spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle: Es wurde für spezielle Sänger, für ein spezielles Publikum und einen bestimmten Tag oder Anlass komponiert. Wie lange die Opern auf dem Spielplan standen, hing allein davon ab, wie viel Publikum kam. In dem Moment, wo die Zuschauer ausblieben, verschwanden die Opern - für den Fall der Barockoper für fast 250 Jahre. Krause: Sie hatten bereits über den Interpreten im Zentrum gesprochen. Das wirkte sich auch auf die Struktur aus. Horstkotte: Die Opern der Barockzeit bauen sich hauptsächlich aus Arien und Rezitativen auf, nur in den seltensten Fällen gibt es Ensembles. Die Rezitative sind die handlungstragenden Teile: Dialoge im gesungenen Sprechen. Hier versuchte man, eine Sprachmelodie in Tonformen zu binden. Die Rezitative werden nur von der Continuo Gruppe begleitet (in unserer Inszenierung von Cembalo, Laute und einem Cello). Die Arie ist die Darstellung von Affekt ohne handlungstragende Aufgabe - eine Art Momentaufnahme und Bild eines emotionalen Zustandes. Außerdem gibt es das Mittel der Gleichnis-Arie, in welcher ein seelischer Zustand in ein Verhältnis gesetzt wird. Dazu zählen beispielsweise die Jagd-Arie (Naturzustand als Spiegel des Inneren) und die Tempesta-Arie (hier wird ein Unwetter dargestellt, um einen hochemotionalen Zustand zu illustrieren). Da die Arien nur Momentaufnahmen sind und keine Vorgänge, muss man als Regisseur daran arbeiten, dass diese handlungstragend werden, man muss sich eigentlich für jede Arie eine kleine Geschichte als Parallelhandlung überlegen. Bereits im Zeitalter des Barock hatten diese Solostücke etwas Revuehaftes mit einem wahnsinnigen technischen Aufwand. Man täuscht sich, wenn man glaubt, dass die Sänger früher nur prachtvoll angezogen und hingestellt wurden. Krause: Und dann gibt es noch das Da Capo… Horstkotte: Es dient der Intensivierung des seelischen Zustandes. Jede Arie hat einen A-Teil und einen B-Teil. Danach wird der A-Teil wiederholt - gleiche Melodie, gleicher Text, jedoch werden im Da Capo die Charakteristika des ersten Teils verstärkt dargeboten - verzerrt, spektakulärer. Diese Verzierungen, die von Sängern und früher auch dem Orchester gemacht wurden, sind in der Partitur nicht ausgeschrieben. Daneben dient das Da Capo auch der Ausstellung von musikalischen Fähigkeiten: besonders schön, besonders hoch, besonders tief, besonders laut, besonders schnell, besonders langsam gesungen. Krause: Man könnte den Eindruck haben, dass eine Psychologie der Figuren in den Barockopern keine Rolle spielen würde. Dem ist aber ganz und gar nicht so. Horstkotte: Ich behaupte, die psychologisch subtilsten Opern sind die frühen. Neben Ariosts „Orlando furioso“ war die antike Mythologie, die einen viel größeren Deutungsspielraum als beispielsweise das Christentum hat, ein weiterer Steinbruch für viele Opern. Das Versepos „Orlando furioso“ handelt von Kreuzrittern, die alle eine Odyssee durchlaufen, um ins Heilige Land zu kommen. „Alcina“ ist eine Parallelgeschichte zu der Zauberin Kirke der „Odyssee“ von Homer. Odysseus landet auf der Insel der Zauberin, die fast alle, die dort landen, in Schweine verwandelt. Im Falle von „Alcina“ werden alle in Steine, Bäche oder Bäume verwandelt. Händel zeigt allerdings in seiner Oper nur die Entzauberung. Seine ganze Sympathie gehört der namensgebenden Zauberin und er gibt ihr seine gesamte Charakterisierungskunst – er zeigt sie nicht als Monster. Krause: Sondern? Horstkotte: Vielmehr als Opfer… Alcina verzaubert Kreuzritter auf ihrer Insel in handlungsunfähige Wesen. Sie hindert die Paladine, nach Jerusalem und in den Krieg gegen die „Muselmänner“ zu ziehen. Eigentlich erschafft sie damit ein friedliches Paradies. Dabei geht es um einen Rückzug ins Innere und um eine Konzentration auf den reinen Gefühlswert - um Liebe, Sensualität. Es wird auf der Insel gejagt, was damals als schönes und poetischen Vergnügen empfunden wurde, aber es wird eben nicht gekämpft. Bevor die Kreuzritter im Heiligen Land auftauchten, gab es dort ein friedliches Nebeneinander von vielen Religionen - dieses Ideal wurde durch sie zerstört. Und dagegen steht die Welt Alcinas. Krause: Ausgerechnet eine Frau hindert sie am Krieg. Horstkotte: Es geht natürlich auch um Weiblich gegen Männlich. Alcina ist die Verkörperung des Weiblichen, des Kreatürlichen und des unabsichtlichen, willenlos machenden Gefühls. Am Ende wird das Bild des Wunderbaren mit der Urne, in der Alcinas Zauberkraft gefangen ist, zerstört. Die ganze Pracht des Paradieses verwandelt sich und ist nur noch eine schreckliche Grotte. Für mich ist das wie eine Apokalypse: Alles ist kaputt, die entzauberten Gestalten besingen die Liebe und stehen in Ruinen. Eigentlich furchtbar. Krause: Wie sieht dieses Paradies in Ihrer Inszenierung aus? Horstkotte: Für mich spielen das 18. Jahrhundert und das Barocktheater eine wichtige Rolle in Bezug auf diese Oper. Wir zitieren bestimmte Formen und Bilder dieser Zeit. Der Kern des Werkes ist die „Geometrie der Liebe“ - geprägt durch einen der bedeutendsten Schriftsteller des frühen 18. Jahrhunderts: Pierre Carlet de Marivaux. Auf der Bühne ist ein Komplex, der eher etwas von einer Maschine hat - eine Art Tresor mit mehreren Hüllen. Im Inneren lebt Alcina - ihr Paradies. Am Schluss muss es mit der Zerstörung der Zauberinsel auch eine Desillusionierung geben: Soldaten, erkennbar aus anderer Zeit, kommen auf die Bühne. Händels „Alcina“ ist zwar fast 300 Jahre alt, hat aber nichts an Aktualität eingebüßt.

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